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Robert Rechenauer Architekten

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Kathedralenkletterer

„Notre-Dame de Paris – O Königin der Schmerzen“

Fantastisch und doch ganz le­bens­nah liest sich das schma­le Büch­lein von Sylvain Tesson, in dem er er­zählt, wie er „still­schwei­gend, mit­ten in der Nacht und dun­kel ge­klei­det“ mit einer Ak­ro­ba­ten­trup­pe auf den Sei­ten­schif­fen der Ka­the­­dra­­le von Notre-Dame de Paris klet­tert. Die „Va­ga­bun­den“ tas­ten sich an den Ge­sim­sen ent­lang und er­kun­den den Dach­stuhl. Ein­ge­hend be­trach­ten sie die ver­kru­ste­ten Fos­silien aus der Krei­de­zeit und be­geg­nen da­bei einem ver­zau­ber­ten und ech­tem Bestiarium aus Gei­ern, Un­ge­heu­ern, Dra­chen – Eulen, Turm­fal­ken und Spin­nen. Imagination und Wirk­lich­keit lö­sen ein­an­der ab und durch­drin­gen alles. Ein Baum wächst auf einem Ge­sims, ein Busch auf einem Turm. In den „Stein­gär­ten“ und „Spitz­bo­gen­wäl­dern“ fol­gen sie den Wand­zeich­nun­gen, die ihnen von der Ge­schichte Frank­reichs er­zäh­len. Kurz vor Mor­gen­grau­en of­fen­bart sich die un­ten lie­gende Stadt. 
Es ist der Tast­sinn des Klet­ter­ers, der ihn bis in die Fin­ger- und Ze­hen­spit­zen hin­ein die „In­sel aus Stein“ erfahren läßt. Nie­mand ver­steht das bes­ser als der Klet­ter­er. Viel­leicht ist es die Ex­trem­si­tuation und der Ab­grund, die die Sin­ne stärkt. Oder der dro­hen­de Ab­sturz, der dann auch pas­siert. Der ge­hört dazu wie die lan­gsame Ge­ne­sung, die die Kathedrale dem Ver­letz­ten ge­währt.

Sind wir nicht alle schon die Stre­be­­gen und Pfei­ler hin­auf ge­klet­tert und sind die Lauf­gänge ent­lang ge­kro­chen? Such­ten wir nicht im­mer schon im Stein die Ris­se und Spal­ten um uns daran fest­zu­hal­ten? Sei es mit den Au­gen, die „Kraft­linien der Kirche“ fol­gend oder im Gei­ste, der „die Gra­nit­spit­zen des Mont-Blanc-Mas­sivs“ ima­gi­niert? Sei es nachts im Traum oder tags­über bei Bewusst­sein.

Das Büch­lein er­in­nert an sein großes Ge­schwis­ter: den gleich­na­mi­gen Ro­­man von Victor Hugo aus dem Jahre 1830, mit dem er der „macht­vollen Symphonie aus Stein“ eine große Hom­mage er­brach­te. Auch dort wird ge­stie­gen, ge­liebt und ge­­lebt bei Tag und Nacht. Hugo traf da­mit den Nerv sei­ner Zeit. 
Beide Werke tra­gen den Schmerz des Ver­lustes vor sich her: das Wis­sen von den Zer­stö­run­gen der Re­vo­lu­tion, die „bar­bar­ische Über­ar­bei­tungen“ welche die Aka­de­mien ver­ur­sach­ten, den Brand vom 15. Au­gust 2019 – und schwär­men dann doch von den groß­artigen Ein­blicken, die „Notre-Dame“ im­mer noch er­öffnet. Hugo be­schwört ge­ra­de­zu den „fast un­ver­meid­lichen Tod dieser Kö­ni­gin der Kün­ste“ und be­teu­ert trotz­dem we­ni­ge Ab­sätze spä­ter „dass die Zu­kunft eines Ta­ges diese Mei­­nung wi­der­le­gen wird“. Die Hoff­nung scheint sich nun mit Tessons suggestiven Text über die Kathe­dralen­klet­ter­er zu er­füllen. Er deu­tet den aus­­ge­­blie­­ben­­en Ein­sturz der gan­zen Kir­che als hoff­nungs­vol­les Zeichen.
Selten wurde über Architektur so haut­nah ge­schrieben.

Sylvain Tesson
Notre-Dame de Paris
O Königin der Schmerzen
aus dem Französischen von Nicola Denis
Friedenauer Presse, Berlin 2023
64 Seiten, 15,00EUR
ISBN 978-3-7518-0639-8

3 ⁄ 2024
Robert Rechenauer


Literaturhinweise
Der im Büchlein von Sylvain Tesson enthaltene Text „Auf den Seitenschiffen“ erschien erstmals in „Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt“ (Matthes & Seitz Berlin, 2013) und wurde für die vorliegende Publikation überarbeitet.

Victor Hugo
Der Glöckner von Note-Dame
Aus dem Französischen von Hugo Meier
Manesse Verlag Zürich, 1996