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Robert Rechenauer Architekten

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Hinter dem Mythos die Architektur
Ein verspäteter Nachruf auf Roberto Calasso (1941-2021)

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Roberto Calasso schrieb nicht über Architektur, sondern über den Mythos. Das Wort Architektur fällt in seinen Büchern selten. Wenn wir die Architektur jedoch als Mythos begreifen – diese Dimension wohnt ihr nämlich wahrhaft inne – gewinnen seine Schriften auch für die Architektur an Bedeutung. Beide, die Architektur und der Mythos, sind nämlich von einer gemeinsamen Vorstellung getragen: dem Bild. 
Es wurde nicht von einem einzelnen Dichter oder Baumeister erfunden, weit vor jeder Geschichtsschreibung entstanden Mythos und Architektur in der Frühphase unseres Menschseins. Sie entwickelten sich geradezu spielerisch im Zuge der Evolution nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. In unendlich vielen Varianten erzählten unsere Vorfahren Geschichten, die zunächst nur in losem Zusammenhang existierten. Auf ähnliche Weise konstruierten sie Bauwerke, die nicht sofort stand hielten. Erst mit der Zeit kristallisierte sich eine allgemein gültige Erzählung und eine überall einsetzbare Bauweise heraus. Es gelang Erzählstränge zu bündeln und Materialien in Konstruktionen zusammen zu fassen. Geschichten und Bauwerke erhielten erst nach und nach ein konkretes Bild. Unterschiedliche, oft sogar gegensätzliche Lösungen deuten heute noch den Findungsprozess an. Der Bautypus des Megaron fand sowohl beim Tempel, als auch beim Palast seine Verwendung. Schrift und Stein fixierten schließlich den gerade erreichten Stand. Das Erzählen formierte sich im Mythos, das Bauen in der Architektur. Das Bild, das jeweils hervortrat, erstarrte und definierte somit den für alle geltenden Kanon. Bis heute prägt er unsere kulturelle Identität.

Es lohnt sich, mit Roberto Calasso die Zeit zurückzugehen und zu begreifen, dass der Mensch über die längste Zeit seiner Existenz nicht Sammler und Jäger, sondern der Gejagte und Gefressene war. Es wird klar, dass er nicht als Erbauer von Häusern, Tempeln und Städten antrat, sondern als Schutzsuchender. Unter Tieren, die seinesgleichen waren, lebte er Jahrhunderttausende lang nahezu hilflos in der Wildnis. Es ging ums nackte Überleben. Und was beim Überleben an Leben übrig blieb, musste er erst einmal verstehen. Die meiste Zeit verbrachte er abwartend und schauend. Er machte Beobachtungen, die er endlos weiter erzählte. Trial-and-Error. Wie geht eine Geschichte sinnvoll zu Ende? Wie kann ich ein Bauwerk einfach errichten?
Roberto Calasso erzählt von den einfachen Menschen, Heroen, Olympiern und den Ädytias, den höchsten vedischen Göttern. Wir blicken auf einen Klumpen Lehm, ein geflochtenes Nestwerk, ineinandergreifende Hölzer oder geschichtete Steine. Sonne, Wind, Regen, Kälte, Hitze streichen darüber und blasen ihnen den Atem, das Leben ein. Kannelierte Säulen stehen vor einem Haus im Licht. Menschen, Tiere, Götter – sogar Mischwesen und Halbgötter – gehen ein und aus. Sie begegnen sich, lieben und bekämpfen sich. Großartige Mythen und Architekturen erzählen unsere Geschichte. Sie sind in unserer Welt etabliert und aus ihr nicht mehr wegzudenken.

Roberto Calasso ist dem Mythos im wahrsten Sinn des Wortes auf den Grund gegangen. Vor allem das antike Griechenland und vedische Indien dienten ihm als unerschöpfliche Quelle. Seine Schriften vermitteln einzigartiges Wissen und inspirieren zu endloser Weitererzählung: „Die Götter kommen immer wieder. An die Metamorphosen gewöhnt, passen Sie sich den Orten, den Zeiten und den Umständen an.“ *  Der Mythos lebt. Kein Wunder also, dass neben den ersten unbekannten Dichtern „für die wir den Sammelnamen Homer haben“ *  die Modernen wie Baudelaire und Kafka Einkehr in sein Werk fanden. 
Roberto Calasso führt uns über Orte und Zeiten hinweg zu den Ursprüngen unserer Kultur und erschließt so auch grundlegende Fragen der Gegenwart. Ganz nebenbei verschafft er uns dabei den Zugang zu einem sehr hintergründigen Verständnis von Architektur. 

12 ⁄ 2022
Robert Rechenauer


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Literaturhinweise

Roberto Calasso war Verleger des renommierten Adelphi Verlages in Mailand. Sein Leben lang arbeitete er als Schriftsteller, zu seinen wichtigsten Werken gehören:

Der Untergang von Kasch – aus dem Italienischen von Joachim Schulte und Reimar Klein, Berlin 2016 – Original: La rovina di Kasch, Milano 1983 
Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia – aus dem Italienischen von Moshe Kahn und Reimar Klein, 2016 – Original: Le nozze di Cadmo e Armonia, Milano 1988
Die Literatur und die Götter – aus dem Italienischen von Reimar Klein, Berlin 2018  – Original: La letteratura e gli dèi, Milano 2001
K. – aus dem Italienischen von Reimar Klein, 2017 – Original: K., Milano 2002
Das Rosa Tiepolos – aus dem Italienischen von Reimar Klein, München 2010 – Original: Il rosa Tiepolo, Milano 2006
Der Traum Baudelaires – aus dem Italienischen von Reimar Klein, Berlin 2019 – Original: La Folie Baudelaire, Milano 2008
Die Glut – aus dem Italienischen von Reimar Klein, München 2015 – Original: L`ardore, Milano 2010 
Der Himmlische Jäger – aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider, Berlin 2020 (* Seite 493ff) – Original: Il Cacciatore Celeste, Milano 2016
Das unnennbare Heute – aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider, Berlin 2019 – Original: L`innominabile attuale, Milano 2017