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Robert Rechenauer Architekten

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Die Insel Ventotene – Modell für Europa

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Die Insel Ventotene mit ihrem Anhängsel, dem Eiland Santo Stefano, ist ein Denk­mal. Ein Na­tur­denk­­mal, ein Kul­tu­rdenk­mal, ein Stück Er­in­ne­rung. Nicht ganz so be­rühmt wie Ischia, Capri oder die weiter im Norden ge­le­gen­en Pon­ti­ni­schen In­seln, doch min­des­tens so bedeutend. Ven­to­te­ne liegt im Mit­telpunkt eines klei­nen Archi­pels im Golf von Gaeta. Zug­vögel und Schif­fe ori­en­tie­ren sich seit Jahr­tau­sen­den an ihren Felsen. Griechen, Phönizier, Sarazenen, Spa­nier und Ne­a­po­li­ta­ner legten an ihrer Küste an und schu­fen nach und nach an einem Europa, für das die Insel als Ge­sam­tes immer noch Modell steht. Von allen Seiten des Mit­tel­meer­es kamen Men­schen oder wurden dorthin ent­sandt, freiwillig oder un­frei­willig. Ein Kom­men und Gehen – wie an vielen Orten. Nir­gend­wo läßt sich dies besser erfahren als hier, auf der Insel.
Dass Ventotene wenig bekannt ist, mag an ihrer Größe von wenigen Qua­drat­ki­lo­me­tern liegen. Dass sie irgend­wann doch einen gewissen Be­kannt­heits­grad er­lang­te, liegt vor allem an dem be­rüch­tig­ten „Er­ga­sto­lo“, den der Bour­bo­nen­könig Fer­din­and IV. für seine po­li­ti­schen Geg­ner auf Santo Ste­fano errichten ließ. Es handelt sich da­bei um einen mo­nu­men­ta­len Bau von nüch­ter­ner Prä­zis­ion, eine regelrechte Ge­fäng­nis­ma­schi­ner­ie. Von einem zen­­­tra­­­len Punkt aus konn­ten die Wäch­ter jede Zelle kon­trol­lie­ren. Das Pan­op­ti­kum als Utopie der per­fek­ten Ein­sper­rung. Wer ein­mal auf Ven­­to­­te­­ne war und auf dem be­nach­bar­ten Eiland die huf­ei­sen­för­mige An­lage mit dem mas­si­ven Kopf­bau und dem zentralen Wach­turm schaute, wird den ein­schüch­tern­den Moment nie ver­ges­sen. Der Komplex steht für Isolation, Un­ter­­drückung und Kon­trolle. Die Ge­fan­ge­nen ver­brach­ten dort ihre le­bens­lan­ge Stra­fe in trost­lo­ser Ein­­zel­haft. Ort und Ruf führte 1939 die Fa­schisten dazu, ihre Gegner auf die Insel in Ver­bannung zu schicken. Unter stren­gen Auf­la­gen waren sie auf Ven­to­te­ne in der bour­bo­nischen Fes­tung und ein­fachen Baracken un­ter­ge­bracht – das Ergastolo auf Santo Stefano immer vor Augen. 
Mussolini regierte seit 20 Jahren Italien und Teile Afrikas, der Na­tional­so­zi­alis­mus stand am Höhe­punkt seiner Macht und beherrschte Eu­ro­pa. Noch be­stand „die Achse“ zwischen Mus­so­lini und Hitler. Die So­wjet­union war noch nicht über­fal­len, Stalingrad in weiter Ferne. Die Ver­ei­nig­ten Staaten sollten in wenigen Monaten dem Zwei­­ten Wel­t­krieg bei­tre­ten. Das war der his­to­rische Kontext in dem sich im Früh­som­mer 1941 ein Kommu­nist, ein So­zi­al­ist und ein Li­ber­a­ler zu­sam­men­fand­en um das „Mani­fest von Ven­to­tene“ zu ver­fas­sen, die unglaubliche Vision von „einem freien und ver­ein­ten Europa“.
Altiero Spinelli war 20 Jahre alt, als er 1927 inhaftiert und zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Zehn Jahre saß er in einem Gefängnis in Rom, drei Jahre ver­brachte er in Ver­bannung auf Ponza, be­vor er 1940 nach Ven­­­to­­­te­­­ne verlegt wurde. Ein Jahr davor hatten die Fa­schis­ten den Jour­na­lis­ten Ernesto Rossi und den jüdi­schen Phi­los­oph­en Eu­genio Colorni dort­hin ver­bannt. Ernesto hatte zu dem Zeit­punkt bereits neun Jahre Ge­fäng­nis hinter sich, Eugenio wenige Monate. Auf Ven­to­te­ne dis­ku­tier­ten und ent­warfen sie die Idee von einem freien und ver­ein­ten Eu­ro­pa, Altiero und Ernesto for­mu­lier­ten sie heim­lich auf Zi­garet­ten­pa­pier. Ursula Hirsch­mann, die Frau von Eugenio, schmug­­gelte die Kas­si­ber aufs Festland. Eugenio, in­zwischen aus der Haft entlassen, verfasste ein Vor­wort und brachte die Texte auf Flug­blättern in Um­lauf.
Für die drei muss das Manifest der Garant für eine hoff­nungs­volle Zukunft gewesen sein. Die Per­spek­tive muss ihnen die Kraft gegeben haben, die schwie­ri­ge Zeit über­haupt zu über­ste­hen. Nach­dem sie das Mani­fest ver­fasst hatten, standen immer noch vier harte Jahre be­vor. Als Altiero und Ernesto am 9.September 1943 von den alliierten Streit­kräf­ten be­­freit wurden, be­ga­ben sie sich – wie Eugenio – nicht in Si­cher­heit, sondern be­kann­ten sich weiter im Wi­der­stand für ihre pol­iti­schen Idea­le. Eine Wo­che vor Kriegs­­­ende be­zahl­te Eugenio den Ein­satz mit seinem Leben. Ernesto und Altiero gestalteten die konkrete Gründung der Eu­ro­­isc­hen Union. Altiero war Mit­glied in der Eu­ro­­ischen Kom­mis­sion und Ab­ge­ord­ne­ter im Eu­ro­­ischen Par­la­ment. Zwei In­sti­tu­tio­nen, die uns heute ganz selbst­ver­ständ­lich scheinen.

Hatte neben den dreien niemand Ideen für eine neue eu­ro­päische Ordnung? Es müssen an­der­orts doch auch solche Manifeste entstanden sein! 
Kann es sein, dass sie uns nur nicht er­reich­ten? Dass sie viel­leicht nur ge­dacht und nie ge­­schrie­­ben wurden, da Papier und Stifte fehlten? Oder, weil das Ge­schrie­be­ne vom Wach­­per­so­nal ent­deckt und vor­zeitig ver­nichtet wurde? Nach kur­zem Stand­ge­richt hingerichtet die Ver­fasser – die Menschen dahinter.
Kann es sein, dass das Manifest von Ventotene ein­zig­ar­tig ist? 
Dass es gar keine anderen Manifeste gab und gibt?
Die Niederlegung der Idee „eines freien und ver­ein­ten Europa“ brauchte einen Ort wie Ven­to­tene. 
Ohne Ventotene – die Isolation, die Kon­zen­tra­tion, das Ergastolo, den Blick aufs Meer – wäre das Mani­fest nie­mals ent­stan­den. Dem Ort ge­bührt des­halb ein größerer Verdienst als man erst glau­ben möchte. Als Denk­mal steht die Insel Ven­to­te­ne auch für die Manifeste, die uns nicht erreichten.

7 ⁄ 2022
Robert Rechenauer


Bildnachweis
Robert Rechenauer

Literaturhinweise
Foa Anna, Andare per i luoghi di confino, Bologna 2018
Foucault Michel, Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1974
Gargiulo Filomena, Ventotene una comunità per decreto - Storia dell’isola 1771-1861, Genova-Ventotene 2017
Pallottino Massimo, Italien vor der Römerzeit, München 1987
Sottoriva Pier Giacomo, Ventotene da confino fascista a isola d´Europa, Genova-Ventotene 2019
Spinelli Altiero, Rossi Ernesto, Prefazione di Eugenio Colorni, Il Manifesto di Ventotene, Genova-Ventotene 2016