Kathedralenkletterer
„Notre-Dame de Paris – O Königin der Schmerzen“
Fantastisch und doch ganz lebensnah liest sich das schmale Büchlein von Sylvain Tesson, in dem er erzählt, wie er „stillschweigend, mitten in der Nacht und dunkel gekleidet“ mit einer Akrobatentruppe auf den Seitenschiffen der Kathedrale von Notre-Dame de Paris klettert. Die „Vagabunden“ tasten sich an den Gesimsen entlang und erkunden den Dachstuhl. Eingehend betrachten sie die verkrusteten Fossilien aus der Kreidezeit und begegnen dabei einem verzauberten und echtem Bestiarium aus Geiern, Ungeheuern, Drachen – Eulen, Turmfalken und Spinnen. Imagination und Wirklichkeit lösen einander ab und durchdringen alles. Ein Baum wächst auf einem Gesims, ein Busch auf einem Turm. In den „Steingärten“ und „Spitzbogenwäldern“ folgen sie den Wandzeichnungen, die ihnen von der Geschichte Frankreichs erzählen. Kurz vor Morgengrauen offenbart sich die unten liegende Stadt.
Es ist der Tastsinn des Kletterers, der ihn bis in die Finger- und Zehenspitzen hinein die „Insel aus Stein“ erfahren läßt. Niemand versteht das besser als der Kletterer. Vielleicht ist es die Extremsituation und der Abgrund, die die Sinne stärken. Oder der drohende Absturz, der dann auch passiert. Der gehört dazu wie die langsame Genesung, die die Kathedrale dem Verletzten gewährt.
Sind wir nicht alle schon die Strebebögen und Pfeiler hinauf geklettert und sind die Laufgänge entlang gekrochen? Suchten wir nicht immer schon im Stein die Risse und Spalten um uns daran festzuhalten? Sei es mit den Augen, die „Kraftlinien der Kirche“ folgend oder im Geiste, der „die Granitspitzen des Mont-Blanc-Massivs“ imaginiert? Sei es nachts im Traum oder tagsüber bei Bewusstsein.
Das Büchlein erinnert an sein großes Geschwister: den gleichnamigen Roman von Victor Hugo aus dem Jahre 1830, mit dem er der „machtvollen Symphonie aus Stein“ eine große Hommage erbrachte. Auch dort wird gestiegen, geliebt und gelebt bei Tag und Nacht. Hugo traf damit den Nerv seiner Zeit.
Beide Werke tragen den Schmerz des Verlustes vor sich her: das Wissen von den Zerstörungen der Revolution, die „barbarische Überarbeitungen“ welche die Akademien verursachten, den Brand vom 15. August 2019 – und schwärmen dann doch von den großartigen Einblicken, die „Notre-Dame“ immer noch eröffnet. Hugo beschwört geradezu den „fast unvermeidlichen Tod dieser Königin der Künste“ und beteuert trotzdem wenige Absätze später „dass die Zukunft eines Tages diese Meinung widerlegen wird“. Die Hoffnung scheint sich nun mit Tessons suggestiven Text über die Kathedralenkletterer zu erfüllen. Er deutet den ausgebliebenen Einsturz der ganzen Kirche als hoffnungsvolles Zeichen.
Selten wurde über Architektur so hautnah geschrieben.
Sylvain Tesson
Notre-Dame de Paris
O Königin der Schmerzen
aus dem Französischen von Nicola Denis
Friedenauer Presse, Berlin 2023
64 Seiten, 15,00EUR
ISBN 978-3-7518-0639-8
3 ⁄ 2024
Robert Rechenauer
Literaturhinweise
Der im Büchlein von Sylvain Tesson enthaltene Text „Auf den Seitenschiffen“ erschien erstmals in „Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt“ (Matthes & Seitz Berlin, 2013) und wurde für die vorliegende Publikation überarbeitet.
Victor Hugo
Der Glöckner von Note-Dame
Aus dem Französischen von Hugo Meier
Manesse Verlag Zürich, 1996