Kirchtürme
Botschafter in der Stadt. Landschaft
Kirchtürme sind Zeichen in der Landschaft, in der Stadt. Es ist ihre Besonderheit, dass sie gleichzeitig visuell und akustisch in Erscheinung treten. Oft nicht alleine, sondern mit anderen in einem größeren gestalterischen und musikalischen Zusammenhang. Ihre Formen sind so vielfältig wie die Kirchen, mit denen sie eine liturgische Einheit bilden. Sie fügen sich zu einem Ensemble, das seit alters das Bild von Stadt und Landschaft prägt. Je höher der Turm, desto sichtbarer das Zeichen und umso lauter das Geläut der Glocken, das von der Spitze weithin schallt. Es tritt als Solist und im Orchester auf.
Anfangs standen die Glockentürme frei, da sie erst nach dem Kirchenbau errichtet wurden. Die Freistellung nobilitierte den neuen Bautypus. Der Turm, der sich meist über einem runden oder quadratischen Grundriss erhob, unterstrich die Bedeutung. Die klare Geometrie strahlte etwas Magisches aus, das im metallischen Klang der Glocken weiter wirkte. Später gingen die Türme mit den Kirchenschiffen eine Symbiose ein und wurden als Gesamtbauwerk verwirklicht.
Kein anderes Gebäude durfte einst höher als der Kirchturm sein. Eine Überschreitung wäre einer Gotteslästerung gleichgekommen und hätte den baldigen Untergang der ganzen Stadt bedeutet. Erst mit der Industrialisierung traten höhere Gebäude an seine Seite. Erst partnerschaftlich, dann in Konkurrenz. Rathäuser, Schlote, Funktürme, Hochhäuser. Ganz selbstverständlich überragen heute Gebäude die alte Obergrenze. Straßenlärm übertönt jedes Geläut, das – hört man es einmal doch zu stiller Stunde – als Störung wahrgenommen wird. Noch behaupten sich die Kirchtürme in unserem kulturellen Bewusstsein, aus dem sie nach wie vor nicht wegzudenken sind. Was wären unsere Städte, unsere Landschaft ohne Kirchtürme? Welche Botschaft geht von ihnen aus?
9 ⁄ 2022
Robert Rechenauer
Bildnachweis
Robert Rechenauer