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Robert Rechenauer Architekten

Hans-Sachs-Straße 6  80469 München  Telefon 089 236856‑0
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Palazzo del Municipio, das neue Rathaus von Terracina
Schlüsselbau im Verständnis von zweitausend Jahren Stadtentwicklung

Der erste Luftangriff traf die Bürger von Terracina völlig unvorbereitet. Diejenigen, die den Tag überlebten, gedenken noch heute jenem 4. September 1943, dem Tag, an dem die alliierten Streitkräfte damit begannen, auch diesen Abschnitt der italienischen Küste zu bombardieren. Ganz schwarz war der Himmel von den herabfallenden Bomben, die in wenigen Sekunden die Hölle auf Erden brachten. Einhundertneunundfünzig Tote waren zu beklagen und hunderte von Verletzen zu versorgen. Die zivile Bevölkerung verlies über Nacht die Stadt und floh in die Berge. Weitere Angriffe aus der Luft und von der See folgten. In die über zweitausend Jahre gewachsene Bebauung der Oberstadt war bald eine tiefe Bresche der Zerstörung geschlagen: Das dicht bebaute Quartier nördlich der Piazza del Municipio war eingestürzt und ausgebrannt. Im Südosten der Piazza war an der Kante, an der die Oberstadt zur Unterstadt jäh abbricht, der städtebauliche Abschluss an empfindlicher Stelle gestört. Dort klaffte eine Lücke, die sich gravierend auf den Stadtraum der Piazza und die Fernwirkung der Stadt auswirkte. Erst 1959 wurde sie mit dem Palazzo del Municipio, dem neuen Rathaus, wieder geschlossen.

Palazzo del Municipio <br />
Fassade zur Unterstadt 2000
Palazzo del Municipio
Fassade zur Unterstadt 2000

Der Bau ersetzt das alte Rathaus, das sich ursprünglich auf der gegenüberliegenden Seite, nämlich im Nordosten der Piazza befunden hatte. An der Stelle, wo das neue Municipio heute steht, stand zuvor der Palazzo della Dogana. Das Haus beherbergte einst die Zollverwaltung und fiel mit dem Quartier jenem ersten Luftangriff vom 4. September zum Opfer. Unter den zerstörten Palazzi kamen bei der Beseitigung der Trümmer längst vergessene Ruinen der römischen Antike und Bodendenkmäler zum Vorschein, auf denen diese Bauten unmittelbar errichtet waren. So fanden sich unter dem alten Rathaus ein Teilstück der Via Appia Antica und das Podium des ehemaligen Tempels der Pertinace. Unter dem Palazzo della Dogana traten hingegen die repräsentativen Marmorplatten des Forum Emilianum zu Tage. Alles Spuren, die bis heute das Erscheinungsbild dieses ehemals dicht bebauten Quartiers bestimmen.

Municipio am ehemaligen Forum Emilianum <br />
Piazza mit Podium des Tempels der Pertinace 2009
Municipio am ehemaligen Forum Emilianum
Piazza mit Podium des Tempels der Pertinace 2009

In der gängigen Terracina-Literatur wird auf die Errichtung des neue Rathaus immer wieder verwiesen. Eine Bewertung der städtebaulichen Situation oder Architektur wird dabei jedoch nicht vorgenommen. Selbst der Name des Architekten oder der Architekten, der Architektin oder der Architektinnen, die dem Ort seine Gestaltung gaben, ist darin nicht zu finden. Lediglich in einem populären deutschen Reiseführer wird das neue Rathaus despektierlich als „architektonischer Schandfleck“ bezeichnet. Die Begründung für das harte Urteil bleibt der Autor seinem Leser allerdings schuldig. Scheinbar wollte er sich damit einer breiten Leserschaft gewogen machen, die oft ähnlich vorschnell ihr Geschmacksurteil fällt. Tatsächlich handelt es sich bei der Schmähung jedoch um eine vordergründige Behauptung, die ihre Rechtfertigung aus der retrospektiven Idylle eines verklärenden Geschichtsbildes zieht, das seit dem 19. Jahrhunderts die deutsche Rezeption der italienischen Städte bestimmt.

Eine Reihe von Fragen drängen sich auf:
Ist der mittelalterliche Geschlechterturm neben dem antiken Appia-Bogen wirklich so viel überzeugender und architektonisch gelungener als der neue Rathausbau neben dem alten Getreidespeicher? Wäre die offene Bresche, die die Bomben des Zweiten Weltkriegs durch die zweitausend Jahre alte Altstadt von Terracina geschlagen hatten, nicht ein dauerhaft wirkendes Mahnmal wider dem Krieg gewesen? Hätte man das neue Municipio, die Leitstelle der Kommune, den politischen Kopf der Stadt, etwa nicht im angestammten namensgebendem Zentrum der Oberstadt lassen, sondern besser in die Unterstadt oder an den prosperierenden Stadtrand verlegen sollen?

Nur wenige Stiche, Fotografien und Pläne eröffnen einem einen gewissen abstrakten Zugang zum Verständnis der Stadt vor und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Man benötigt schon einiges an Vorstellungskraft, um die vielen Fragmente zu einem konkretes Bild zusammenzuführen.

Panorama von Terracina <br />
Kathedrale, Relief aus dem 17. Jahrhundert
Panorama von Terracina
Kathedrale, Relief aus dem 17. Jahrhundert

Bei der Errichtung des neuen Rathauses kamen zwei konträre, grundlegend verschiedene städtebauliche Entwurfsprinzipien zu Tragen: das Prinzip der offenen und das Prinzip der geschlossenen Bauweise. Beide Sichtweisen prägten über zweitausend Jahre das Bild und die Figur der Stadt.

Terracina war in der Spätantike eine reiche römische Stadt, die bereits viele Jahrhunderte ohne Bedrohung von aussen existierte. Die antike Akropolis, das Areal der heutigen Oberstadt, stellte einen wichtigen Orientierungspunkt für die damalige Küstenschifffahrt dar. Seine Bauten bildeten zur Unterstadt und zum Meer hin, einen großartigen Prospekt. Von weitem begrüßten monumentale Prachtbauten die ankommenden Schiffe. Das Zentrum, das Forum Emilianum - die heutige Piazza del Municipio - bildete den städtebaulichen Schwerpunkt der Gesamtanlage. In der Kaiserzeit bestand das Zentrum nur noch aus repräsentativen Bauten, die nicht mehr dem Schutz, sondern alleine der Staatsräson des Römischen Reiches dienten. Neben vielen Tempeln und einer Basilika schmückte ein großen Theater die Kulisse. Das Forum ruhte auf gewaltigen Substruktionen, die selbst eine Erweiterung des ursprünglichen Geländes darstellten. Es hatte ursprünglich eine Ausdehnung, die beinahe doppelt so groß war wie die Piazza heute. Wir dürfen davon ausgehen, dass es sich mit einer städtebaulichen Geste großzügig zum Meer hin öffnete.

Ab dem frühen Mittelalter erfuhr der offene Städtebau jedoch eine einschneidende Umkehrung. Im Zuge der vielen, im Detail nur schwer nachvollziehbaren demographischen Niedergänge, schrumpfte die Stadt nämlich auf den topographisch geschützten Bereich der antiken Akropolis zusammen. Nach und nach ordneten die Bürger ihre neuen Häuser wagenburgartig um die Mitte des alten Forums an. Das Forum transformierte zu einem neuen gestaltsbildenden Nukleus, an dem sich schließlich die gesamte mittelalterliche Bebauung ausrichtete. Über die Jahrhunderte entstand so das vertraute Muster der dicht gestrickten Stadt, das, trotz der vielen baulichen Verluste, heute noch die städtebauliche Struktur der Oberstadt prägt. Mit dem Niedergang des römischen Reiches bestimmten zunehmend nicht mehr das Öffnen und Zeigen die Gestaltung des Zentrums, sondern das Schützen und Verbergen. Das nach allen Seiten hin offene Forum der Antike wurde schließlich durch den geschlossenen Platz des Mittelalters und der Neuzeit ersetzt. Die Stadtzentrum kommunizierte räumlich nicht mehr mit seiner Umgebung, sondern schottete sich gegen sie ab.

Palazzo del Municipio <br />
Piazza mit Bezug zur Unterstadt 2009
Palazzo del Municipio
Piazza mit Bezug zur Unterstadt 2009

Ein Schlüsselbau im Verständnis dieser städtebaulichen und architektonischen Transformation, die die Oberstadt von Terracina in den letzten zweitausend Jahren erfahren hat, ist der Palazzo del Municipio, das Rathaus von Terracina. Die beiden konträren städtebaulichen Prinzipien von Öffnen und Schließen kulminieren in seiner städtebaulichen Setzung und Architektur. Erst im geschichtlichen Kontext der Stadt werden die kommunalen und architektonischen Leistungen klar, die bei der Errichtung des neuen Rathauses erbracht wurden. Spätestens hier erkennt man die Sorgfalt, die der Planung des neuen Rathauses zu Grunde liegt. Mit dem Bau schloss man im Südosten der Piazza del Municipio nicht nur eine der gravierendsten Baulücken des Zweiten Weltkriegs, sondern arrondierte damit an dieser empfindlichen Stelle die Gestalt der Stadt.

Die neue Baulinie wurde dabei nicht mehr vom zerstörten Vorgängerbau, dem Palazzo della Dogana, definiert, sondern durch das unter diesem wieder zum Vorschein gekommenen Pflaster des Forum Emilianum. Nachdem im Mittelalter der Baukörper des Palazzo vor die Bauflucht des Torre dei Rosa gerückt war, hatte er bis zu seiner Zerstörung gemeinsam mit dem ihm gegenüberliegenden Palazzo Comunale das Ostende der Piazza dominiert. Die neue Baulinie des Neubaus zeigt damit nicht nur die räumliche Ausdehnung des alten Forums wieder auf, sondern verleiht der Piazza auch eine gewisse Grandezza, die ihr zuvor nicht mehr eigen war. Andererseits übt die zurückspringende Bauflucht auf den Platz einen Sog aus, der den Besucher auf das Rathaus lenkt.

Der architektonische Aufbau ist durch die kanonische Struktur des klassischen Palastes definiert: Parterre, Beletage und Mezzanin sind in Grundriss, Schnitt und Ansicht gleichermaßen ablesbar. Die gestalterischen Zonen stimmen mit den funktionalen Erfordernissen überein. Das aufgeständerte Erdgeschoß bildet als offene Loggia das Entree für die Stadtverwaltung und das unmittelbar benachbarte Museum. Das hochräumige erste Obergeschoß beherbergt mit dem Zimmer des Bürgermeisters, dem Saalssaal und dem großen Besprechungssaal, die repräsentativen Teile des Hauses. Darüber befinden sich Verwaltungs- und Lagerräume. Die Funktionen spiegeln sich in der Gestaltung der Fassaden wieder. So setzt sich die Beletage mit seinen schmal proportionierten Arkaden deutlich von der offen Loggia des Erdgeschoßes und den geschossenen Flächen der übrigen Bereiche ab. Parterre und der Beletage bilden dabei eine Art doppelstöckige Loggia. Dieses Prinzip wird nicht nur an der Fassade zur Piazza hin angewandt, sondern konsequent auf die der Unterstadt zugewandten Seite des Palazzo übertragen.

Die doppelstöckige Loggia bietet dem Bürger und Besucher nicht nur einen geschützten Zugang zur Stadtverwaltung oder dem städtischen Museum, sondern auch den uneingeschränkten Ausblick und räumlichen Bezug zur Landschaft, der Unterstadt und dem Meer.

Blick auf die Unnterstadt und das Meer <br />
Loggia Municipio 1999
Blick auf die Unnterstadt und das Meer
Loggia Municipio 1999

Mit dem Konzept gelang es - zumindest der Anmutung, nicht dem Maßstab nach - eine städtebauliche Situation wieder herzustellen, die seit der Antike nicht mehr gegeben war: nämlich den uneingeschränkten Blick auf das Treiben in der Unterstadt, die Landschaft und das Meer. Die Transformation eines kriegsbedingten Durchbruchs zu einer offenen Loggia machte es möglich, das  Zentrum mit seinem angestammten Umfeld wieder zu verorten. Umgekehrt wurde auf diese Weise ein kleines Stück Landschaft in das Stadtzentrum hinein - und somit zurück geholt. Die städtebauliche Intervention, die aus der Ferne betrachtet wie ein Belvedere oder ein großer Stadtbalkon wirkt, kann und soll dabei die antike Geste, die mit monumentalen Strukturen das Forum bereits vom Meer aus sichtbar machte, nicht ersetzen. Dennoch ist heute das Zentrum mit einer seiner wichtigsten Funktion, nämlich dem Rathaus als Leitstelle der ganzen Stadt, von aussen wieder erlebbar.

Belvedere Palazzo del Municipio <br />
Situation von der Unterstadt 1999
Belvedere Palazzo del Municipio
Situation von der Unterstadt 1999

Was die Baudetails anbelangt, haben die Architekten den gestalterischen Spagat zwischen Antike, Mittelalter, Neuzeit und Moderne versucht. Man sieht dem Gebäude das Ringen um die richtige Gestalt regelrecht an. Bei dem einen oder anderen Baudetail mag es dabei durchaus zu Verwerfungen gekommen sein, im Großen und Ganzen sind sie jedoch in einer in sich stimmigen Gesamtkomposition aufgegangen. Aus der deutschen Perspektive scheint es sich dabei fast um ein vorgezogenes Stück Postmoderne zu handeln, tatsächlich reichen die Wurzeln jedoch weiter zurück.

Der Razionalismo - die italienische Moderne - hatte schon immer den Anschluss an die Tradition und den Bezug zu den historischen Beispielen gesucht. Gerade die Bauten der Antike hatten bei der Gestaltsfindung eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit endete bei den Architekten des Municipio nicht im Entwurf, sondern setzte sich in der Entwicklung der Baudetails fort. So dürfen wir beim Rathaus den Travertin an den Loggien und das opus reticulatum an der Fassade als direkte Referenz zur römischen Architektur und Baugeschichte Terracinas verstehen. Dies auch, wenn anstatt einer durchgängigen Attika, Zinnen am Gesims und eine unproportional große und schlecht gesetzte Schrift die edle Gestaltung der Fassade unnötig banalisieren.

Opus reticulatum am Kapitol von Terracina 1994<br />
Referenz zur Antike
Opus reticulatum am Kapitol von Terracina 1994
Referenz zur Antike

Man kann den Neubau mit seinen klaren städtebaulichen und formalen Gesten auch als architektonische Metapher einer wieder erstarkenden kommunalen Autonomie begreifen. War doch den italienischen Städten im Faschismus ihre Eigenständigkeit entzogen worden und der Versuch, den bürgerlichen Gemeinsinn in einem faschistisch-nationalistischen Einheitsstaat aufgehen zu lassen, gescheitert. Die Architekten der unmittelbaren Nachkriegszeit suchten sicherlich nach neuen Formen und ließen sich dabei womöglich von den historischen Bauten der erfolgreichen italienischen Stadtrepubliken inspirieren. So kann man beim Rathaus durchaus Reminiszenzen zum Palazzo della Signoria in Florenz, der Scala dei Giganti, der Sala del Maggior Consiglio im Dogenpalast von Venedig oder den offenen Arkaden des Palazzo della Ragione in der freien Stadt Padua feststellen.

Der Palazzo del Municipio, das Rathaus von Terracina, ist heute fester Bestandteil einer weiter anhaltenden städtebaulichen Transformation. Das Gebäude bringt einen Gestaltungswillen zum Ausdruck, der für die italienische Nachkriegszeit beispielhaft ist. Er ist ein wichtiger Baustein für die weitere Zukunft der Stadt.

10 ⁄ 2013
Robert Rechenauer


Bildnachweis
Robert Rechenauer

Literaturhinweise
Aurigemma Salvatore / Bianchini Arturo / De Santis Angelo, Circeo - Terracina - Fondi, Roma 1960
Bianchini Arturo, Storia di Terracina (III Editione), Formia 1994
Burckardt Jacob, Die Baukunst der Renaissance in Italien - Nach der Erstausgabe der „Geschichte der Renaissance in Italien“ herausgegeben von Maurizio Ghelardi, C. H. Beck München / Schwabe & Co AG Basel
Coppola Maria Rosaria, Terracina - Il Foro Emiliano, Terracina 1986
Grossi Venceslao, Il Foro Emiliano di Terracina, Terracina 2003
Portella Ivana della (Hg), Via Appia - Entlang der bedeutendsten Straße der Antike, Stuttgart 2003
Rech Clara, Terracina e il Medioevo - Un punto di osservazone sul primo millenio alle fine del secolo secondo millennio, Terracina 1989
Selvaggi Emilio, Terracina nobile e plebea, Terracina 2010
Spezzaferro Giovanni, Terracina 1943-1944 - 55° Anniversario del 1° Bombardamento, Terracina 1998