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Robert Rechenauer Architekten

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Podere 1413
Authentisches Zeugnis des Ventennio

versione italiana

Im Ventennio – dem von 1922 bis 1943 andauernden Zeitraum des Fasch­is­mus – er­hob Italien ter­ri­to­riale Macht­­an­sprü­che, die weit über die Gren­­zen Eu­ro­pas hin­aus­reich­ten. Da­bei bot das ei­­ge­­ne Land Platz ge­nug zum Le­ben. Es war so groß, dass man innerhalb der eigenen Grenzen nicht nur un­er­wünsch­­te Geg­ner ver­ban­nen, sondern ver­dienst­volle Par­tei­gän­ger so­gar ko­lo­ni­sie­ren konnte.

Be­rühm­te Ro­ma­ne er­zäh­len vom Exil und der Ko­lo­ni­sa­tion. Car­lo Levi gab mit sei­nem „Chris­tus kam nur bis Ebo­li“ schon 1945 ein be­red­tes Beis­piel vom Le­ben in der Ver­ban­nung. An­tonio Pen­nacchi hin­gegen, hat erst un­längst in sei­ner wahr­haft epo­cha­len Er­zäh­lung „Ca­na­le Musso­lini“ die Ge­schich­te der Ko­lo­ni­sa­tion be­hand­elt. Die bo­ni­fica pon­ti­na stellt ei­nen der span­nend­sten Ka­pi­tel in der jüng­sten ita­li­enischen Kul­tur­ges­chich­te dar. An­hand der Ur­bar­ma­chung der Pon­ti­ni­schen Sümp­fe und der da­ran an­schlie­ßen­den Be­sie­de­lung stellt Pen­nac­chi den Wan­del dieser be­reits in der An­ti­ke be­schrie­be­nen Land­­schaft dar. Man darf da­bei nicht aus­­ser Acht las­sen, wie fremd sich die heu­te als Re­gi­o­nen be­zeich­ne­ten Land­stri­che der Apen­nin­enhalb­in­sel da­mals war­en. Große sprach­liche, kul­turel­le und wirt­schaft­liche Un­ter­schie­de trenn­ten die Be­woh­ner von­ei­nan­der. Die Un­ter­schie­de schie­nen un­über­brück­bar. Doch im ven­ten­nio sind die Men­schen – mehr oder weni­­ger ge­wollt oder un­ge­wollt – tat­säch­­lich zu­sam­men­ge­rückt.

Befasst man sich mit dem Städ­te­bau und der Bau­ge­schich­te je­ner Zeit, trifft man schnell auf die in den 1930er Jahren neu ge­grün­de­te Land­städte Lit­toria (dem heu­­ti­­gen Latina), Sa­baudia, Pontina, Aprilia und Pomezia. In un­glaub­lich kur­zer Zeit wur­den diese im Zuge der Bo­ni­fi­ca in­ner­halb weni­­ger Jahre ge­plant und er­rich­tet. Un­ter­schied­liche Qua­li­­ten prä­gen bis heute ihre Archi­tek­tur und Er­schei­nungs­bild. Vie­le Ge­bäu­de sind im Ori­gi­nal noch er­hal­ten und in Be­nut­zung. In der Sala Grande des ehe­ma­li­gen Pa­laz­zo del Go­ver­no in Latina zeugt das Fres­ko La Redenzione dell´Agro Pontino – Die Er­­sung des Pon­ti­ni­schen Ackers von Duilio Cam­be­lot­ti von der laut- und bild­star­ken Pro­pa­gan­da, die das Ge­samt­pro­jekt von An­fang an begleitete.

Die Erlösung des Pontinischen Ackers <br />
Duilio Cambelotti, Ausschnitt
Die Erlösung des Pontinischen Ackers
Duilio Cambelotti, Ausschnitt

Von 1927 bis 1939 wurden in einem großen Kraftakt die letzten von Malaria be­fal­len­en Sumpf­­ge­bie­te der Pon­ti­na trocken gelegt, das Land vermessen und der Bo­den für den Ackerbau vor­bereitet. Un­ter dem Auf­ruf zur Bat­taglia di grano – Ge­trei­de­schlacht – sollte Italien so von sei­nem Ge­trei­de­man­gel, Er­näh­rungs­not­stand und da­mit ein­her­ge­hen­den gra­vie­ren­den Han­dels­de­fi­zit be­freit wer­den. Auf dem neu ge­won­ne­nem Bo­den sie­del­te man wie zur Rö­mer­zeit Familien ver­dienst­­­vol­­ler Ve­tera­nen aus dem der Emi­lia Ro­ma­g­na und dem Ve­ne­to an. Be­ni­to Musso­­lini lös­te da­mit ein Ver­spre­chen ein, dass der König sei­nen Sol­­da­­ten für ihren schwe­ren Kampf­­ein­­satz zu­ge­sagt hatte. Das Ge­samt­pro­jekt wur­de von der ONC organisiert, einem Ve­tera­nen­ver­band, der 1918 von ent­täusch­ten heim­keh­ren­­den Sol­da­ten ge­grün­det wur­­de. Die drei Buch­sta­ben ste­hen für Opera Na­z­i­o­na­le Com­­bat­­ten­ti – Na­tio­na­le Front­kämp­fer­ver­eini­gung. Der Ver­band und die fasch­is­ti­sche Par­tei waren schnell han­dels­­eins ge­worden.

Weit weniger bekannt als die damals neu gegründeten Landstädte sind die kleinen städte­bau­li­chen Sied­lungs­ein­hei­ten der Poderi. Kleine Guts­höfe, die in re­gel­­mäßi­gem Ab­stand von der ONC für die neu­en Sied­ler be­reit­ge­stellt wur­den. Sie bil­de­ten die ei­gent­lich­en Keim­zelle der Ko­­lo­­ni­­sie­­rung. Antonio Pen­nac­chi hat sie ein­drück­lich in seinem Roman beschrieben:

Die Höfe - oder Siedlerhäuser - waren alle hell­blau ge­stri­chen. Zwei­stöckig. Mit zwei Dach­schrä­gen und höl­zer­nem Dach­stuhl. Rote Falz­ziegel. Dach­rin­nen mit Fall­rohr. Auf dem Dach ein gro­ßer run­­der Schorn­stein aus Fer­tig­bau­tei­l­en, bei allen gleich. Die na­gel­neu­en Fens­ter waren grün ge­stri­chen und hatten außen keine Fens­ter­­den, son­­dern nur Mü­ck­en­git­ter – äuß­erst fein­ma­schi­­ge Metall­git­ter, die die In­sek­ten ab­hiel­ten –, dann ka­men die Fens­ter­schei­ben und da­hin­ter, in­nen, Lä­den aus hell lack­ier­tem Holz, Paneelen, die kein Licht hereinließen.

Podere 1413 an der Migliara 48 <br />
Zustand 2013
Podere 1413 an der Migliara 48
Zustand 2013

Trotz der von der ONC gepriesenen Fort­schritt­lich­keit gab es im Haus keine Elek­tri­zi­tät, kein fließend Was­ser und keine Bä­der. Die An­fangs­schwie­rig­kei­ten waren er­heb­lich und das agra­ri­sche Kon­zept, das hinter dem Pro­jekt stand, alles an­de­re als erfolgreich. Der Böden waren für den Getreideanbau nicht immer ge­eig­net, die Sied­ler für die Land­wirt­schaft oft nicht qua­li­fi­ziert. Der Kahl­schlag des ge­sam­ten Baum­be­stan­des führ­te zu Ero­sio­­nen und ge­walti­gen Wind­­schä­­den bei der Bebauung.

Nach der Landung der al­liier­ten Streit­kräfte bei Anzio und Net­tu­no am 22 01 1944 ver­wandel­te sich der ge­sam­te Agro Pon­ti­no in ein Schlacht­­­feld, auf dem sich deut­sche, ita­li­en­ische und al­liier­te Streit­kräf­te in einer Art Stel­lungs­­krieg über vie­le Wo­chen be­kämpf­ten. Die Jahre des mü­he­vol­len Auf­baus wa­ren da­mit erst ein­mal zu­nich­te ge­macht. Nach dem Krieg fand eine star­ke Orientierung zur In­dus­trie und dem Tour­is­mus statt. Staat­liche Sub­ven­tion­en führ­ten vie­len­orts zu einem un­­kon­­trol­­lier­­ten städ­te­­bau­lichem Wachs­tum.

Das recht­winklige Ras­ter von Ka­­len und Stra­ßen, das seit Hip­po­da­mos na­he­zu alle Ko­lo­ni­en als ei­gen­stän­di­ges Ge­stal­tungs­merk­mal auf­wei­sen, prägt bis heu­te die Land­schaft der Po­nt­in­ischen Ebe­ne. Das Ras­ter bi­ldet ein Sys­tem von Sied­lungs­ach­sen, ent­lang de­rer sich die Be­bau­ung im­mer noch aus­rich­tet. Na­he­zu ver­schwun­den ist al­ler­dings der ori­ginä­re Bau­ty­pus des Podere. Be­gibt man sich auf die Spu­ren­suche, so stellt man schnell fest, dass von den ur­sprüng­lich 3.500 Hö­fen so gut wie kei­ner mehr erhalten ist.

11 ⁄ 2013
Robert Rechenauer


siehe auch:

BDA-Informationen des BDA Bayern 
1.14 Am Rand

Bildnachweis
Robert Rechenauer

Literaturhinweise
Bodenschatz Harald (Hg.), Städtebau für Mussolini – Auf der Suche nach der neuen Stadt im fasch­is­ti­schen Ita­lien, DOM publishers Berlin 2011
Gilmour David, Auf der Suche nach Italien – Eine Geschichte der Men­schen, Städte und Regio­nen von der Antike bis zur Gegen­wart, Klett-Cotta, Stuttgart 2013
Grossi Venceslao, Il Territorio di Carta, La tras­­for­ma­zione della strut­tura storica ter­rito­ra­le di Terra­cina e dall´area pon­tina at­traver­so la carto­grafia storica, Comune di Terracina 1997
Lampugnani Vittorio Magnago, Die Stadt im 20.Jahr­hun­dert – Visionen, Ent­würfe, Ge­bau­tes, Ver­lag Klaus Wagen­bach, Berlin 2010
Levi Carlo, Christus kam nur bis Eboli, München 1982
Pennacchi Antonio, Canale Mussolini, Carl Hanser Verlag München 2012
Istituto di Studi Romani (Editore), La Bonifica delle Paludi Pontine, Casa Roma 1935
Rossetti Vincenzo, Dalle paludi a Littoria, Diario di un medico 1926-1936, Polombi Editori Roma 2002
Regione Lazio ∕ Ministero per i Beni e le Attività Culturali ∕ Touring Club Italiano, Metafisica Costruita, Le Cttà di fondazione degli anni Trenta dall`Italia all`Oltremare, Touring Editore Milano 2002