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Robert Rechenauer Architekten

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Die Piazza del Municipio von Terracina
Verdichtete Stadt und moderne Wüstung - zweitausend Jahre städtebauliche Transformation

versione italiana

Piazza del Municipo, Oberstadt von Terracina 1999<br />
Casatorre di Orazio Migliore, Torre dei Rosa, Campanile Cattedrale
Piazza del Municipo, Oberstadt von Terracina 1999
Casatorre di Orazio Migliore, Torre dei Rosa, Campanile Cattedrale

Einzigartig in ganz Italien ist die Piazza del Municipio in der Ober­­stadt von Terracina. Mehr als zwei­tausend Jahre Bau­ge­schich­te prä­gen ihr Er­schei­nungs­­bild. So­li­de Ge­sel­len­stü­cke und re­spek­ta­ble Mei­ster­wer­ke sind hier auf eng­stem Raum ver­eint. Wie viele an­de­re Städ­te in Eu­ro­pa hat Terra­cina ge­wal­ti­ge Trans­for­ma­tio­nen er­fah­ren. Das be­son­de­re an die­sem Ort ist, dass sie hier un­mit­tel­bar er­leb­bar sind.

Marmorplatten am ehemaligen Forum Emilianum
Marmorplatten am ehemaligen Forum Emilianum

Die Gestaltung des Platzes reicht auf das Forum Emi­lia­num aus dem ersten vor­christ­li­chen Jahr­hun­dert zu­rück. Die groß­for­ma­ti­gen Mar­mor­plat­ten und die seit­lich an­ge­ordne­ten po­ly­go­na­len Pfla­ster­stei­ne der Via Appia antica zeu­­gen ein­drück­lich von der einstigen kul­tu­rel­len, wirtschaftlichen und stra­­te­­gi­­schen Be­deu­tung der Stadt in der Antike. Die meisten Bau­wer­ke, der Fi­gu­ren­schmuck und na­he­zu alle In­schrif­ten aus der Zeit sind je­doch ver­­lo­ren ge­gan­gen. Den Stadtraum, den das Forum ehe­mals ein­nahm, erkennt heute nur der kundige Betrachter.

Das antike Forum war weitaus größer als die heutige Piazza, nur an wenigen Stellen zeichnen sich die ur­sprüng­li­chen Pro­por­tio­nen ab. Nach­fol­gen­de Ge­ne­ra­tion­en be­setz­ten den Platz immer wieder mit neuen Ge­bäuden und ver­wisch­ten so die alten Konturen. Die Piazza präsentierte sich immer als die Mo­ment­auf­nahme eines sich ständig wandelnden räumlichen Gefüges.

Schlanke, hoch aufragende, mittelalterliche Ge­schlech­ter­tür­me, eng gebaute Bür­ger­häu­ser und spät­ba­rocke Pa­­ste be­stim­men heu­te das Er­­schei­­nungs­­bild des Platzes. Herausragende Bauten wie die Kathe­drale, der ehemalige Bi­schofs­pa­last, der Torre dei Rosa und das den Platz seinen Namen ge­ben­de Municipio weisen den Ort als Zentrum aus.

Cattedrale San Cesario, Terracina 1999
Cattedrale San Cesario, Terracina 1999

Das Bild beherrscht die monumentalen Anlage der Cat­tedrale San Cesareo, die sich im Os­ten der Piazza er­hebt. Eine mehr­fach ge­stuf­te Trep­pen­an­lage führt auf das alte Tem­pel­po­di­um, auf dem die Kirche unter der Ver­wen­dung von an­ti­ken Spolien er­rich­tet ist. Das Ge­bäu­de wurde bau­lich immer wie­der ver­ändert und ist stilistisch kei­ner Epoche zu­zu­ord­nen. Romanische Bau­teile mischen sich mit ba­ro­cken Formen, by­zan­ti­ni­sche Bild­­ele­­men­­te mit den neu­zeit­li­chen His­to­ri­zis­men den 19., 20. und in­zwi­schen auch 21.Jahr­­­hun­­derts. Antike Säulen, ro­ma­ni­sche Ge­bäl­ke und Werksteine aller Art ordnen sich zu einem gleich­sam eigenwilligen wie stim­mi­gen Gan­zen. Der Torre dei Rosa dominiert die Süd­seite und steht im span­nungs­vol­len Kontrast zum Cam­­pa­­ni­­le. In ihrem Zu­sam­men­spiel er­zäh­len die Bau­ten und ihre Teile end­­lose Geschichten.

Und doch, neben all der Dichte und dem Vielen gibt es hier ein städte­bau­lich­es Vaku­um, das Nichts, die Leere. Die Bom­bar­die­rung­en des Zwei­ten Welt­krie­ges hin­ter­ließen auch in Terracina Leid, Schmerz und Zer­stö­rung. Wäh­rend andernorts die bau­li­chen Wun­den längst ge­schlos­sen sind, so liegen sie hier – im Norden der Piazza – im­mer noch offen. Die Trüm­mer sind zwar be­seitigt, doch ein Wiederaufbau hat fast siebzig Jahre nach Kriegs­ende nicht statt ge­fun­den. Die Gründe hier­für sind viel­schich­tig und haben mit der kom­ple­xen Ent­wick­lung der Stadt zu tun.

Terracina wurde zwischen 1943 und 1944 mehrfach aus der Luft und vom Meer bom­bar­diert. Die Un­ter­stadt mit dem Hafen wurde nahezu komplett zer­stört. Eine große städte­bau­li­che Bra­che zieht sich seitdem durch die an­sons­ten dich­te Ober­stadt. In den Dekaden nach dem Krieg war die Oberstadt von Schrump­fungs­pro­zes­sen be­trof­fen, die uns vor al­lem aus dem Mit­tel­al­ter und der frü­hen Neu­zeit be­kannt sind. Da­mals war in­fol­ge von Krie­gen, Hun­gers­­ten und Epe­di­mi­en die An­zahl der Be­völ­ke­rung stark zu­rück­ge­gan­­gen. Das Areal stellt seit­dem eine Art mo­der­ne Wüstung dar.

Standort des Tempels der Pertinace, Belag des ehemaligen Forum Emilianum, Zustand 1994
Standort des Tempels der Pertinace, Belag des ehemaligen Forum Emilianum, Zustand 1994

Der ruinöse Eindruck des Zentrums wird ver­stärkt durch die archäo­lo­gi­schen Grabungen, die in den letz­­ten Jah­ren im Nor­­den des Platzes große Teile des an­ti­ken Theaters zum Vor­schein brach­ten. Im Zuge der Kam­pa­gne wurden auf dem Gelände un­längst weitere Häu­ser ab­ge­tra­gen. Der Vorgang war durch die Zer­stö­run­gen des Zwei­­ten Welt­­kriegs in Gang ge­setzt worden, da bei der Be­sei­ti­gung der mit­tel­al­ter­li­chen und neu­­zeit­­li­­chen Trüm­mer längst vergessene Bau­tei­le wie das Ca­pi­to­lum, das Po­di­um des Tem­pels der Per­ti­na­ce oder die Via Appia antica mit der vierseitigen Bo­gen­kon­struk­tion, über­haupt erst ans Ta­ges­licht ge­kommen waren.

Mit dem Verlust des Palazzo della Dogana, einem Ge­bäu­de, das heute durch den Palazzo del Mu­­ni­­ci­pio – dem Rat­­haus – er­setzt ist, tat sich zudem, ne­ben dem Torre dei Rosa, eine städ­te­bauliche Öff­nung zum Meer hin auf, die über lange Zeit aus der kollektiven Er­in­ne­rung ver­schwun­den war.

Golf von Terracina mit Monte Circeo
Golf von Terracina mit Monte Circeo

Über viele Jahrhunderte hatte die Piazza eine voll­kom­men in sich ge­schlos­se­ne – ver­schlos­se­ne – städte­­bau­liche Ein­heit dar­ge­stellt. Es hatte kei­nen vi­su­el­len oder gar städte­bau­li­chen Be­zug zur reich ge­glie­der­te Land­schaft mehr ge­ge­ben. Durch die kriegsbedingte Öffnung wirkte anstelle des Palazzo della Do­ga­na plötz­lich der flirrende Spiegel des tyr­rhe­ni­schen Meeres in das alte Zentrum hinein. Un­ter einem lag die of­fe­ne Be­bau­ung der Un­ter­stadt, vor einem brei­te­te sich der Golf von Terracina aus. Am Horizont setzten sich die Sil­houet­ten der drei pon­ti­ni­schen Inseln ab. Der Blick fing sich schließ­lich im Massiv des my­thi­sch­en Monte Circeo, jenem Eiland der Kirke, an dem der Über­lie­fe­rung nach Odys­seus und Aeneas an Land gegangen sind.

Erstmals seit der Antike konnte jeder in der Stadt wie­der wahr­neh­men, dass er sich nicht auf dem fla­chen Land, sondern in erhöhter Lage über der pon­­ti­­ni­­sch­en Ebene und dem Meer befand. Man be­griff, dass man auf den Grund­festen ei­ner Ak­ro­po­lis stand, die ur­sprüng­lich zum Schutz der Stadt und dann zur Ver­herr­li­chung der rö­mi­sch­en Staats­raison er­richtet wurde.

Oberstadt von Terracina mit pontinischer Ebene
Oberstadt von Terracina mit pontinischer Ebene

Nicht nur für Archäologen, Stadtplaner und Archi­tekten geht von den Bauten, Ruinen und Räumen der Piazza del Municipio eine große Fas­­zi­na­tion aus, son­dern auch für viele Tour­is­ten, die hier im Som­mer durch das Zent­rum zie­hen. Ohne sich der Dra­men, die sich hier vor nicht allzu langer Zeit ab­spiel­­­ten, tat­säch­lich be­wusst zu sein, ver­fallen sie den un­ter­schied­lich­sten Sug­­ges­tio­nen, die von diesem städte­bau­li­chen Ges­amt­kunst­werk aus­ge­hen. Sie gleichen da­rin ganz den Italienreisenden des 19.Jahr­­hun­­derts, die – los­­ge­löst von der Wirk­lich­keit des all­­täg­li­chen Le­bens – an­ge­sichts der Städte und Ruinen in me­di­ter­ra­ner Land­­schaft sich ihren ro­man­ti­schen Sehn­­süch­ten hin­ga­ben.

Nüchtern betrachtet, kann man das Areal rund um die Piazza del Mu­ni­ci­pio auch als Aus­­druck von stadt­­pla­ner­ischer Hilf­lo­sig­keit ver­ste­hen. Das be­deu­tet je­doch nicht, dass man­geln­de Ide­en oder feh­len­des Kapital die Ur­sache für die scheinbare Vernachlässigung bil­den. Nicht ge­klär­te Ei­gen­tums­ver­häl­tnis­se, be­ste­­hen­­des Bau­recht und Denk­mal­schutz be­stim­men die Ver­hält­nis­se min­de­stens eben­so. Doch, was man­cher heu­te als Mangel ver­steht, stellt eine Res­sour­ce dar, die nicht hoch ge­nug ein­­geschätzt werden kann.

Verdichtete Stadt im Hintergrund, moderne Wüstung im Vordergrund, Zustand 1999
Verdichtete Stadt im Hintergrund, moderne Wüstung im Vordergrund, Zustand 1999

7 ⁄ 2013
Robert Rechenauer


Bildnachweis
Robert Rechenauer

Literaturhinweise
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Bianchini Arturo, Storia di Terracina (III Editione), Formia 1994
Città di Terracina / Società per la storia patria della Provinca di Latina in collaborazione con la soprintendenza per i beni archeologici del Lazio (Ed), Il Teatro Romano di Terracina e il teatro romano nell`antichità, Atti del convegno, Terracina 6 Marzo 2004
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Grossi Venceslao, Il Foro Emiliano di Terracina, Terracina 2003
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Portella Ivana della (Ed), Via Appia - Entlang der bedeutendsten Straße der Antike, Stuttgart 2003
Rech Clara, Terracina e il Medioevo - Un punto di osservazone sul primo millenio alle fine del secolo secondo millennio, Terracina 198
Rinaldi Franco, Terracina nel secolo buio della tirannia del Frangipani, Terracina 2006
Rocci Giovanni Rosario, La Terracina di Frédéric Vitoux, Terracina 1995
Selvaggi Emilio, Terracina nobile e plebea, Terracina 2010
Spezzaferro Giovanni, Terracina 1943 - 1944, I Giorni del Terrore, 55° Anniversario del 1° Bombardamento 4 Settembre 1943, Terracina 1998