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Robert Rechenauer Architekten

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Gotik Reloaded

Die Architekten hielten bei ihren Prä­sen­ta­ti­on­en meh­re­re Entwürfe bereit. Grund­ris­se, Schnitte und An­sich­­ten er­ar­bei­te­ten sie in un­ter­schied­lichen Stilen und stell­ten sie ihren Auf­­trag­ge­bern als Va­ri­an­ten vor. Die An­ord­nung, in welchem Stil eine Kirche zu bauen war, kam schließ­­­­­lich vom König. Fried­­­rich Wil­helm von Preu­ßen und Lud­wig von Bayern for­der­ten von ihren Architekten Kirchen im „Mit­tel­al­ter­stil“. Die 1830 von Karl Friedrich Schinkel ge­stal­­te­­te Fried­richs­wer­der­sche Kirche in Ber­lin oder die 1839 von Joseph Daniel Ohl­mül­ler in Mün­­chen ent­wor­fene Maria­hilf­kirche zähl­ten zu den frü­­hes­­ten Bei­spielen „neo­go­ti­scher“ Bau­ten in Deutsch­­land.

Der gotische Baustil erlebte Anfang des 19. Jahr­hundert eine Wie­der­geburt. 
Wie vor­mals die Architekten der Re­nais­sance, die sich für die Bauten der rö­mi­schen Antike be­gei­ster­ten, tas­teten die Bau­­mei­ster der Neo­gotik anfangs im Dunk­­len. Die Vor­stel­lung, wie mit­tel­al­ter­liche Bau­ten aus­ges­ehen hatten, ver­fes­tigte sich erst im Lauf der Zeit. Die Fach­leute sahen trotz der ge­ra­de­zu ma­the­ma­ti­schen Regel­haftig­keit nur „ver­wor­rene Will­kür­lich­keit“. Der Spitz­bogen, die Auf­lösung der Wände in ein System von Stüt­zen und Stre­be­pfei­lern, die Bal­da­chine da­rüber und die bun­ten Glas­flächen da­zwi­schen, waren als „bar­bar­isch“ dif­fa­miert. Eine klei­ne Schar von ro­man­tisch ge­sinn­ten Schrift­stellern, Intel­lektuel­len und Künst­lern hatte um die Jahr­hun­dert­wende die Qua­litä­ten der mit­tel­alter­lich­en Bau­ten ent­deckt und die un­ge­wöhn­lichen Kon­struk­tio­nen und Raum­schöp­fun­gen be­wun­dert. Als Bau­ruinen stan­den sie oft un­voll­endet seit dem Mit­tel­alter in­mitten der Städte. 
Die Entdeckung ging Hand in Hand mit der Suche nach neu­en künst­ler­ischen Aus­drucksf­or­men in einer Epo­che, die von Re­vo­lu­tio­nen und Uto­pien ge­tragen war. Nach jahr­zehn­te­lan­­gen Kriegen, Sä­ku­lar­isation, Re­stau­ration, be­ginn­en­der In­du­s­tri­­a­li­­sie­­rung und Staaten­­bil­dung be­fand sich ganz Eu­ro­pa im Um­bruch und war im Begriff sich neu zu er­fin­den. Man woll­­te sich der vor­herr­schen­den, für den Ab­so­lu­tis­mus ste­hen­den, ba­rocken For­men­­spra­­che ent­le­digen und einen neu­en Stil be­grün­den. Un­will­kürlich re­fer­en­zier­te man dabei den mit­tel­alter­lichen Uni­ver­sal­ismus als ­authen­ti­schen Nu­kle­us der neu­en Ge­sell­schaft und iden­ti­fi­zier­te die go­ti­sche Kathe­dra­le als Zei­chen der Befreiung.
Schon 1773 hatte der 22-jährige Goethe mit seiner pro­gram­mati­schen Nieder­schrift „Von deut­scher Bau­kunst“ – in der er die go­ti­sche Archi­tek­tur des Straß­bur­ger Mün­sters und des­sen Bau­meister Er­win von Stein­bach glo­ri­fi­zier­te – die Dis­kus­sion er­öffnet und den an­ste­hen­den Ge­­sin­nungs­wan­del ein­ge­läutet; Fried­rich Schle­gel ma­ni­fes­tier­te ihn 1803 in „Grund­­­­züge der Go­ti­schen Bau­kunst“. Die Nähe zum Flo­ra­len, also die Hin­wen­dung zur Natur, die Ab­gren­zung zur be­gin­nen­­den Indus­tri­ali­sie­rung – die von den sen­­sib­­len Kün­st­lern schon beim ersten Auf­tre­ten als be­droh­lich empfun­den wur­de – und vor allem die Suche nach ei­ner neu­en natio­na­len Identi­tät, setz­ten die aus­schlag­ge­ben­den Impulse.

Dom über einer Stadt <br />
Friedrich von Schinkel, um 1830 (Kopie)
Dom über einer Stadt
Friedrich von Schinkel, um 1830 (Kopie)

Architekten wie Karl Friedrich Schinkel sahen in der go­ti­schen Kathe­drale die Ver­­kör­­pe­­rung einer neu­en Staats­­idee. Heute stößt dies auf Un­ver­ständ­­nis, da Glau­ben und Re­gie­ren selbst­­­­ver­­ständ­lich strikt von­ein­an­der ge­trennt werden. Das Be­kennt­nis zum Chris­­ten­­tum ge­hörte da­mals je­doch zur Staats­raison. Projekte wie der Köl­ner Dom, die seit Jahr­hun­der­ten ihrer Fer­tig­stel­lung harr­ten, wur­den voll­endet oder – wie am Dom in Re­gens­burg ge­sche­hen – von nach­träg­lichen Um- und Aus­bau­ten be­freit. Konstruktion und Re­kon­struk­tion er­lebten eine Hoch­kultur. 
Um den kon­struk­tiven und ge­stal­ter­isch­en An­for­de­run­gen ge­­recht zu werden, mussten sich Ar­chi­­tek­­ten und Künst­­ler mit den Er­for­dernis­sen der längst ver­­ges­se­ne gotische Bau­weise ver­traut ma­chen und ver­lo­ren ge­gan­gen­es Terrain zu­rück­er­lan­gen. Pla­nung, Hand­werk und For­schung gin­gen da­bei Hand in Hand. Man glaubte im Geist der Gotik zu ent­wer­fen, doch man baute neo­go­tisch. Trotz der vie­len Prin­zipien und For­men, die die Bau­meister den go­ti­schen Bauten ent­lehn­ten, ent­stand in der An­wendung et­was voll­kom­men Neu­es, das – von sti­lis­ti­schen For­ma­lis­men ab­ge­se­hen – we­nig mit den ver­ehr­ten Ori­gi­na­len zu tun hatte. Das Mit­tel­al­ter lag weit zu­rück, sein Den­ken, Empfinden und Wis­sen war über­­holt, ver­­ges­sen und ver­lo­ren. Die Auf­­­klä­­­rung hatte den mit­­tel­al­ter­lichen Glau­ben trans­for­miert und die Kir­che ge­spalten. Die go­ti­schen Bau­denk­mäler zeug­­ten noch von einer ver­meint­lich bes­ser­en Zeit. Der neue Bau­­stil stand für die Sehn­­sucht nach einer hei­len Welt, die man in der Ver­gan­gen­heit zu finden dach­te und mit den neu­en neo­go­ti­schen Bau­ten in die Ge­gen­wart zu proj­iz­ier­en glaub­te. Die Ent­wick­lung verlief nicht ge­rad­li­nig, son­dern auf ver­­schlun­ge­nen Pfaden; die Spiel­arten ge­stal­te­ten sich viel­seitig.
Auf Ebene der Literatur und Künste fand eine in­ten­si­ve An­eig­nung und Fort­schrei­bung der Gotik statt. Re­tro­spek­­ti­ve und Zu­kunfts­schau lösten dabei einander ab. Der Roman „Notre Dame von Paris“ von Victor Hugo von 1831 oder „Die Steine von Venedig“ von John Ruskin von 1851 waren Best­steller. Eugène Viol­let-le-Duc nä­her­te sich der gotischen Bau­­weise von der in­ge­nieur­­mäßigen Seite und ver­­öf­fent­­li­chte zwi­schen 1854 und 1868 sei­ne For­schungs­­ergeb­­nis­se und Projekte in den zehn Bänden des „Diction­naire raison­né de l’archi­tec­ture“.

Baustelle des Kölner Doms<br />
Johannes Franciscus Michiels 1855
Baustelle des Kölner Doms
Johannes Franciscus Michiels 1855

Die Kathedrale als Zeichen der nationaler Einheit wurde in Deutsch­land ob­so­let als man er­kann­te, dass die Gotik ori­gi­när in Frank­­reich er­fun­den wurde. Politische Ge­­sin­­­nung und re­li­gi­öse An­schauung drif­­te­­ten da­nach zu­neh­mend aus­ei­nan­der. Ein­mal ein­ge­führt, wirkte der uni­ver­sa­le Grund­ge­danke je­doch über die eu­ro­­ischen Gren­zen hin­weg mit gro­ßem Er­folg wei­ter fort. Die Be­gei­sterung hielt an, der neo­gotische Stil etablierte sich. An den Poly­tech­ni­schen Hoch­schu­len wur­de neo­gotisches Bauen ge­lehrt. Die einen ver­stan­den Go­tik als mit­tel­al­ter­liche In­ge­n­ieur­kunst, andere als stein­ge­wor­dene Scho­las­tik. Nebenbei exis­­tier­­te im­mer eine eso­terische Aus­­le­gung, wel­che die Gotik zur Ge­heim­wis­sen­schaft ver­klärte. Jede Sicht­weise ent­wickelte eine ei­ge­ne Er­zäh­lung, die in den Köpfen der An­wen­der und Be­trach­ter un­ter­schied­liche Bil­der ima­gi­nierte. In den ge­stal­ten­den Dis­zi­pli­nen brach­­ten sie unter­schied­liche Lö­sun­gen und Mo­den her­vor. Im Kirchen­bau galt die Neo­­gotik am Ende des 19.Jahr­­hun­derts als der sak­ral­ste aller Stile – bis er we­ni­ge Jahr­­zehn­­te spä­ter schnell an Be­deu­tung verlor.

Mit den Botschaften, der als neue Heils­brin­gerin auf­tre­ten­den Mo­der­ne, konnte die Neo­gotik auf Dau­er nicht mit­hal­ten. Schon zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts wurde die Idee vom Mit­tel­al­ter als aus­ge­wie­sener Sehn­suchts­ort einer ver­­meint­­lich bes­seren Welt nicht mehr ver­stan­den und nicht mehr ak­zep­tiert. Der neo­go­ti­sche Stil ver­moch­te keine Im­pul­se mehr zu setz­ten, wurde aus Lehre und Praxis ver­bannt und ward seit­dem nicht mehr praktiziert.

5 ⁄ 2025
Robert Rechenauer


Bildnachweis
Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Stadtmuseum München

Literaturhinweise
Cramer Johannes / Laible Ulrike / Nägelke Hans-Dieter, Karl Fried­rich Schin­kel – Führer zu sei­nen Bau­­ten, Mü­nchen Ber­lin 2006
Huse Norbert (Hg.), Denkmalpflege – Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, München 2006
Klauser Manuela, Iko­ni­sche Kir­chen – Pfarr­kir­chen­bau an Rhein und Ruhr zwi­schen Hi­storis­mus und Moderne, Re­gens­burg 2019
Matuschek Stefan, Der ge­dich­te­te Him­mel – Eine Ge­schicht­e der Ro­man­tik, Mün­chen 2021
Schickel Gabriele, Typisierung und Sti­li­sie­rung im Sa­kral­bau, in: Ro­man­tik und Re­sta­ura­tion – Archi­tek­tur in Bayern zur Zeit Lud­wig I 1825-1848, Mün­chen 1987
Viollet-le-Duc Eugène, Definitionen: Sieben Stich­wor­te aus dem „Diction­naire raisonné de l’archi­tec­ture“. Aus dem Fran­­si­schen von Marianne Uhl, Basel Berlin Boston 1993