Gotik Reloaded
Die Architekten hielten bei ihren Präsentationen mehrere Entwürfe bereit. Grundrisse, Schnitte und Ansichten erarbeiteten sie in unterschiedlichen Stilen und stellten sie ihren Auftraggebern als Varianten vor. Die Anordnung, in welchem Stil eine Kirche zu bauen war, kam schließlich vom König. Friedrich Wilhelm von Preußen und Ludwig von Bayern forderten von ihren Architekten Kirchen im „Mittelalterstil“. Die 1830 von Karl Friedrich Schinkel gestaltete Friedrichswerdersche Kirche in Berlin oder die 1839 von Joseph Daniel Ohlmüller in München entworfene Mariahilfkirche zählten zu den frühesten Beispielen „neogotischer“ Bauten in Deutschland.
Der gotische Baustil erlebte Anfang des 19. Jahrhundert eine Wiedergeburt.
Wie vormals die Architekten der Renaissance, die sich für die Bauten der römischen Antike begeisterten, tasteten die Baumeister der Neogotik anfangs im Dunklen. Die Vorstellung, wie mittelalterliche Bauten ausgesehen hatten, verfestigte sich erst im Lauf der Zeit. Die Fachleute sahen trotz der geradezu mathematischen Regelhaftigkeit nur „verworrene Willkürlichkeit“. Der Spitzbogen, die Auflösung der Wände in ein System von Stützen und Strebepfeilern, die Baldachine darüber und die bunten Glasflächen dazwischen, waren als „barbarisch“ diffamiert. Eine kleine Schar von romantisch gesinnten Schriftstellern, Intellektuellen und Künstlern hatte um die Jahrhundertwende die Qualitäten der mittelalterlichen Bauten entdeckt und die ungewöhnlichen Konstruktionen und Raumschöpfungen bewundert. Als Bauruinen standen sie oft unvollendet seit dem Mittelalter inmitten der Städte.
Die Entdeckung ging Hand in Hand mit der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen in einer Epoche, die von Revolutionen und Utopien getragen war. Nach jahrzehntelangen Kriegen, Säkularisation, Restauration, beginnender Industrialisierung und Staatenbildung befand sich ganz Europa im Umbruch und war im Begriff sich neu zu erfinden. Man wollte sich der vorherrschenden, für den Absolutismus stehenden, barocken Formensprache entledigen und einen neuen Stil begründen. Unwillkürlich referenzierte man dabei den mittelalterlichen Universalismus als authentischen Nukleus der neuen Gesellschaft und identifizierte die gotische Kathedrale als Zeichen der Befreiung.
Schon 1773 hatte der 22-jährige Goethe mit seiner programmatischen Niederschrift „Von deutscher Baukunst“ – in der er die gotische Architektur des Straßburger Münsters und dessen Baumeister Erwin von Steinbach glorifizierte – die Diskussion eröffnet und den anstehenden Gesinnungswandel eingeläutet; Friedrich Schlegel manifestierte ihn 1803 in „Grundzüge der Gotischen Baukunst“. Die Nähe zum Floralen, also die Hinwendung zur Natur, die Abgrenzung zur beginnenden Industrialisierung – die von den sensiblen Künstlern schon beim ersten Auftreten als bedrohlich empfunden wurde – und vor allem die Suche nach einer neuen nationalen Identität, setzten die ausschlaggebenden Impulse.

Friedrich von Schinkel, um 1830 (Kopie)
Architekten wie Karl Friedrich Schinkel sahen in der gotischen Kathedrale die Verkörperung einer neuen Staatsidee. Heute stößt dies auf Unverständnis, da Glauben und Regieren selbstverständlich strikt voneinander getrennt werden. Das Bekenntnis zum Christentum gehörte damals jedoch zur Staatsraison. Projekte wie der Kölner Dom, die seit Jahrhunderten ihrer Fertigstellung harrten, wurden vollendet oder – wie am Dom in Regensburg geschehen – von nachträglichen Um- und Ausbauten befreit. Konstruktion und Rekonstruktion erlebten eine Hochkultur.
Um den konstruktiven und gestalterischen Anforderungen gerecht zu werden, mussten sich Architekten und Künstler mit den Erfordernissen der längst vergessene gotische Bauweise vertraut machen und verloren gegangenes Terrain zurückerlangen. Planung, Handwerk und Forschung gingen dabei Hand in Hand. Man glaubte im Geist der Gotik zu entwerfen, doch man baute neogotisch. Trotz der vielen Prinzipien und Formen, die die Baumeister den gotischen Bauten entlehnten, entstand in der Anwendung etwas vollkommen Neues, das – von stilistischen Formalismen abgesehen – wenig mit den verehrten Originalen zu tun hatte. Das Mittelalter lag weit zurück, sein Denken, Empfinden und Wissen war überholt, vergessen und verloren. Die Aufklärung hatte den mittelalterlichen Glauben transformiert und die Kirche gespalten. Die gotischen Baudenkmäler zeugten noch von einer vermeintlich besseren Zeit. Der neue Baustil stand für die Sehnsucht nach einer heilen Welt, die man in der Vergangenheit zu finden dachte und mit den neuen neogotischen Bauten in die Gegenwart zu projizieren glaubte. Die Entwicklung verlief nicht geradlinig, sondern auf verschlungenen Pfaden; die Spielarten gestalteten sich vielseitig.
Auf Ebene der Literatur und Künste fand eine intensive Aneignung und Fortschreibung der Gotik statt. Retrospektive und Zukunftsschau lösten dabei einander ab. Der Roman „Notre Dame von Paris“ von Victor Hugo von 1831 oder „Die Steine von Venedig“ von John Ruskin von 1851 waren Beststeller. Eugène Viollet-le-Duc näherte sich der gotischen Bauweise von der ingenieurmäßigen Seite und veröffentlichte zwischen 1854 und 1868 seine Forschungsergebnisse und Projekte in den zehn Bänden des „Dictionnaire raisonné de l’architecture“.

Johannes Franciscus Michiels 1855
Die Kathedrale als Zeichen der nationaler Einheit wurde in Deutschland obsolet als man erkannte, dass die Gotik originär in Frankreich erfunden wurde. Politische Gesinnung und religiöse Anschauung drifteten danach zunehmend auseinander. Einmal eingeführt, wirkte der universale Grundgedanke jedoch über die europäischen Grenzen hinweg mit großem Erfolg weiter fort. Die Begeisterung hielt an, der neogotische Stil etablierte sich. An den Polytechnischen Hochschulen wurde neogotisches Bauen gelehrt. Die einen verstanden Gotik als mittelalterliche Ingenieurkunst, andere als steingewordene Scholastik. Nebenbei existierte immer eine esoterische Auslegung, welche die Gotik zur Geheimwissenschaft verklärte. Jede Sichtweise entwickelte eine eigene Erzählung, die in den Köpfen der Anwender und Betrachter unterschiedliche Bilder imaginierte. In den gestaltenden Disziplinen brachten sie unterschiedliche Lösungen und Moden hervor. Im Kirchenbau galt die Neogotik am Ende des 19.Jahrhunderts als der sakralste aller Stile – bis er wenige Jahrzehnte später schnell an Bedeutung verlor.
Mit den Botschaften, der als neue Heilsbringerin auftretenden Moderne, konnte die Neogotik auf Dauer nicht mithalten. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Idee vom Mittelalter als ausgewiesener Sehnsuchtsort einer vermeintlich besseren Welt nicht mehr verstanden und nicht mehr akzeptiert. Der neogotische Stil vermochte keine Impulse mehr zu setzten, wurde aus Lehre und Praxis verbannt und ward seitdem nicht mehr praktiziert.
5 ⁄ 2025
Robert Rechenauer
Bildnachweis
Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Stadtmuseum München
Literaturhinweise
Cramer Johannes / Laible Ulrike / Nägelke Hans-Dieter, Karl Friedrich Schinkel – Führer zu seinen Bauten, München Berlin 2006
Huse Norbert (Hg.), Denkmalpflege – Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, München 2006
Klauser Manuela, Ikonische Kirchen – Pfarrkirchenbau an Rhein und Ruhr zwischen Historismus und Moderne, Regensburg 2019
Matuschek Stefan, Der gedichtete Himmel – Eine Geschichte der Romantik, München 2021
Schickel Gabriele, Typisierung und Stilisierung im Sakralbau, in: Romantik und Restauration – Architektur in Bayern zur Zeit Ludwig I 1825-1848, München 1987
Viollet-le-Duc Eugène, Definitionen: Sieben Stichworte aus dem „Dictionnaire raisonné de l’architecture“. Aus dem Französischen von Marianne Uhl, Basel Berlin Boston 1993